Die AOK lehne inzwischen landesweit bis zu 35 Prozent der Behandlungspflegeverordnungen der Ärzte ab. Dazu gehörten Leistungen der Pflegedienste wie Blutzuckermessen, Insulinspritzen, Medikamentenabgabe und Blutdruckmessen. "Die Ärzte halten es für erforderlich, dass Pflegedienste bei ihren Patienten diese Leistungen erbringen. Es ist unverständlich, wie sich die AOK gegen die ärztliche Kompetenz stellt, " sagte Zerrle. Dieses Verhalten könne verheerende Wirkungen auf die Gesundheit der Patienten haben. Umsonst arbeiten könnten auch die Pflegedienste nicht. Sie müssten die Leistungen nun ihren Patienten in Rechnung stellen. Dann aber sei zu befürchten, dass manche Patienten auf Kosten ihrer Gesundheit auf diese Leistungen nun verzichten würden. Manche Ärzte seien von der AOK schon so verunsichert worden, dass sie die Leistungen gar nicht mehr verordnen würden.
Im Übrigen bezweifelt
die Caritas, dass die Sparmaßnahmen der AOK rechtens sind. Die AOK hatte
ihre Verweigerung der Kostenübernahme mit dem Argument begründet,
Blutzuckermessen und Blutdruckmessen seien der "allgemeinen Krankenbeobachtung"
zuzuordnen und könnten deshalb nicht im Rahmen der Behandlungspflege vergütet
werden. Das, so die Caritas, sei schlicht falsch. Der anerkannte Pflegestandard
Krankenbeobachtung enthalte diese Leistungen gerade nicht. Deshalb müssten
sie im Rahmen der Behandlungspflege von den Krankenkassen gezahlt werden.
Durch die Leistungen der häuslichen Krankenpflege werde vielen Menschen
ein Verbleiben in den eigenen vier Wänden ermöglicht. Dafür gebe
die Gesetzliche Krankenversicherung deutlich weniger als zwei Prozent ihres
Leistungsvolumens aus. Zerrle: "Durch die Ausgaben für die häusliche
Krankenpflege können sich die Kassen bestimmt nicht sanieren. Warum versucht
man es dennoch zuerst bei den alten und kranken Menschen, die sich dagegen kaum
zu Wehr setzen können?"
Beispiele
Eine 83jährige Frau mit Herzproblemen und hohem Blutdruck, lebt allein
in ihrer Wohnung. Sie hat eine Bypassoperation am Herzen hinter sich, ist sehr
vergesslich, teilweise etwas verwirrt. Der Arzt hat Blutdruckkontrolle durch
einen Pflegedienst verordnet. Die Krankenkasse hat das abgelehnt.
Eine insulinpflichtige diabeteskranke 67jährige Frau hatte einen Herzinfarkt,
sitzt im Rollstuhl, ist halbseitig gelähmt. Der Ehemann sieht nach einer
Augenoperation sehr schlecht. Die Blutzuckerwerte sind sehr schwankend. Der
Arzt hat deshalb Blutzuckermessen durch einen Pflegedienst verordnet. Die Kasse
lehnte die Finanzierung ab.
Krankenkassen verweigern
außerdem Erhöhung der Vergütung bei anderen Leistungen
Neben der nach Auffassung der Caritas willkürlichen Ablehnung von behandlungspflegerischen
Leistungen haben die AOK und in diesem Fall auch die anderen Krankenkassen auch
eine angemessene Erhöhung der Vergütung anderer Leistungen verweigert.
Zerrle: "Die Gebührenvereinbarung ist bereits zum 31. Dezember 2001
ausgelaufen. Die Krankenkassen wissen, dass die Personal- und Sachkosten der
Pflegedienste gestiegen sind. Aber sie weigern sich, mehr zu zahlen. Sie bieten
lediglich an, den bisherigen Vertrag ohne Erhöhung weiterzuschreiben."
Darauf könnten sich die Pflegedienste aber nicht einlassen. Die Kassen
sparen also zur Zeit gleich zweifach. Die AOK reduziert die Leistungen und alle
Kassen verweigern zudem eine angemessene Finanzierung.
Kritik am Stil der AOK
Kritik übt der Landes-Caritasverband auch am Stil der AOK Bayern. Ohne
ihren Verhandlungspartner auf Landesebene, die "Arbeitsgemeinschaft der
Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Bayern", auch nur zu
informieren, wende sich die AOK seit einigen Monaten direkt an die Pflegedienste
und Ärzte. "Ich bitte Sie dringend, für Inhalt und Umsetzung
notwendiger Verfahrensänderungen eine Form zu finden, die noch erkennen
lässt, dass Sie uns als Vertragspartner in Erfüllung wichtiger gemeinsamer
Aufgaben betrachten", schrieb der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft,
Johann Frankl (Caritas) an die AOK. Die kurzfristige Ankündigung der Änderungen
im Genehmigungsverfahren widerspreche ebenso wie die Ausschaltung der Spitzenverbände
der Wohlfahrtspflege "dem Geist partnerschaftlicher Zusammenarbeit."
Dieses Verhalten der AOK unterscheide sich deutlich von dem anderer Kassen.
Pflegedienste mit finanziellen
Problemen
Durch die rigorose Sparpolitik geraten die Pflegedienste nach Befürchtung
der Caritas allmählich in finanzielle Probleme. Die Einnahmeausfälle
seien nicht mehr lange zu verkraften. Wenn die AOK auf ihrem Standpunkt beharre,
müssten die Pflegedienste Pflegekräfte entlassen. Das sei kontraproduktiv,
wenn man an die bevorstehende Einführung der Fallpauschalen in den Krankenhäusern
denke. Ziel dieser Maßnahmen sei es, die Verweildauer der Patienten in
den Krankenhäusern zu senken und die weitere Pflege in die wesentlich billigere
häusliche Pflege zu verlagern. "Wer soll diese Pflege denn übernehmen,
wenn man bereits heute die Pflegedienste personell aushebelt und die anerkannt
guten Strukturen zerstört? Eigentlich müsste es gerade umgekehrt sein
und man müsste die ambulante Pflege stärken statt sie zu schwächen"
sagte Zerrle. Das Verhalten der AOK widerspreche auch dem politisch unumstrittenen
Grundsatz "ambulante vor stationärer Hilfe."
Hoffnung auf Verhandlungen
Noch setzt die Caritas auf Verhandlungen. Am 11. Juni sitzen sich die Vertreter
der Kassen und der Pflegedienste wieder gegenüber. Die Caritas hofft dabei
auf ein Einsehen der AOK. Sie fordert eine Übernahme der Kosten für
die abgelehnten behandlungspflegerischen Leistungen und eine grundsätzliche
Erhöhung der Gebühren, die die Erhöhung der Personal-und Sachkosten
auffängt. Sollte es nicht dazu kommen, werde man sich ungewöhnliche
öffentlichkeitswirksame Aktionen gegen die AOK überlegen. "Die
Wut der Patienten und unserer Mitarbeiter in den Pflegediensten ist groß",
sagte der Landes-Caritasdirektor.
Umfassende Gesundheitsreform
gefordert
Zerrle ist sich dabei durchaus der Finanznöte der Kassen bewusst. Er fordert
deshalb eine schnelle umfassende Gesundheitsreform, die es den Krankenkassen
ermögliche, das Krankheitsrisiko solidarisch abzufedern. Dazu gehöre
auch eine Verbesserung der Einnahmen der Krankenkassen.
Die Caritas und ihre angeschlossenen Verbände unterhalten in Bayern rund
380 häusliche Pflegedienste, die jährlich etwa 80.000 alte und kranke
Menschen pflegen.
Weitere Informationen: Herr Hein, Tel. 0170/561 38 82.