In Bayern drohen soziale
Standards der Sparpolitik zum Opfer zu fallen. Wohlfahrtsverbände werden
bereits offen als „Defizittreiber“ beschimpft. Caritas-Chef Karl-Heinz Zerrle
geht zum Gegenangriff über.
SZ: Die Staatsregierung hat sich stets ihrer
Sozialpolitik gerühmt. Ist das Selbstlob noch gerechtfertigt?
Zerrle: In den letzten Jahrzehnten
hat Bayern speziell in der Kinder-, Behinderten- und Jugendhilfe Standards
entwickelt, die sich sehen lassen können.
Um so
bedauerlicher ist es, dass sie einseitig zurückgenommen werden.
SZ: Interessiert sich Stoiber nicht für soziale
Fragen?
Zerrle: Zu wenig, meine ich.
Er verweist darauf, dass das Sozialministerium unser Ansprechpartner ist. Ich
habe ihm aber in Briefen geschrieben, dass beispielsweise der riesige Bereich
der Pflege Chefsache sein muss.
SZ: Wer macht die Sozialpolitik? Ministerin Stewens
oder die Staatskanzlei?
Zerrle: Es scheint so, dass
der Ministerin Stewens in vielen Dingen durch die Staatskanzlei die Hände
gebunden sind. Auch uns wird immer wieder gesagt, dass sich letztlich alles dem
Diktat des schuldenfreien Haushalts zum Jahr 2006 unterordnen muss. Die
Wohlfahrtverbände sehen auch ein, dass gespart werden muss. Aber es kann ja
wohl nicht sein, dass man das alles in gerade mal zwei Jahren bewerkstelligen
will.
SZ: Die Staatsregierung fordert von den
Wohlfahrtsverbänden, dass auch sie sparen müssen.
Zerrle: Den Vorwurf, dass
unsere Einrichtungen schlecht gewirtschaftet haben, halte ich für absolut nicht
gerechtfertigt. Schon seit 1994 sind die Pflegesätze in den
Behinderteneinrichtungen gedeckelt. Seitdem hat es kaum mehr Erhöhungen
gegeben. Wenn ich im Sozialbereich sparen will, dann muss ich bei den
Personalkosten sparen. Denn jedes Altenheim hat im Schnitt 80 Prozent
Personalkosten. Wenn man aber da spart, dann spart man letztlich bei der
Betreuung oder der Pflege.
SZ: Aber wo gibt es Sparpotenzial?
Zerrle: Es könnten
bürokratische Vorgaben abgeschafft werden. Kontrollen in Einrichtungen sind
notwendig, aber es kommt alle paar Wochen ein anderer. Die Pflegekräfte müssen
alles wieder von vorn erklären. Und die Kontrolle müssen wir auch noch
bezahlen.
SZ: Auch der Landkreistag hält den
Wohlfahrtsverbänden vor, sie seien Kostentreiber.
Zerrle: Das ist
verwunderlich. Da muss man sich fragen, ob die in den letzten Jahren geschlafen
haben. Die Landkreise waren an allen Vorhaben beteiligt. Sie wussten genau
Bescheid. Die Standards wurden doch von Staat, Kommunen und der
Wohlfahrtspflege zusammen erarbeitet. Diese Äußerungen versteht kein Mensch.
SZ: Was sind denn die schmerzhaftesten Einschnitte
ins soziale Netz?
Zerrle: Es gibt gewaltige
Einschnitte, die Menschen mit Behinderungen treffen. Etwa die Kürzung des
Blindengelds. Was der Caritas sehr
weh getan
hat, das
war die Kürzung der Hilfe für Obdachlose. Hier geht es um die Ärmsten der
Armen. Denen die Mittel zu entziehen, das bringt keinen Spar-Effekt. Was uns
aber als Träger von sozialen Einrichtungen besonders trifft, sind die Kürzungen
bei Kommunen und Bezirken.
SZ: Staatskanzleichef Erwin Huber übt massiv Druck
auf die Bezirke aus und fordert, dass etwa in der Pflege die Fachkraftquote
gesenkt werden muss.
Zerrle: Das ist vollkommen
inakzeptabel. Wir haben immer mehr schwer pflegebedürftige Menschen; auch in
der Jugendhilfe werden die Fälle schwieriger. Diese Menschen sind auf die
solidarische Hilfe des Staates angewiesen. Da brauchen wir im Gegenteil sogar
mehr Fachkräfte, um dem gerecht zu werden. Man sollte nicht so zu tun, als ob
Fachkräfte in der Pflege Spitzenverdiener wären.
SZ: Wie steht es um das „S“ der CSU?
Zerrle: Für uns als
christlichen Wohlfahrtsverband fußt die Sozialpolitik auf den Prinzipien der
katholischen Soziallehre: Subsidiarität, Solidarität, Personalität. Die Politik
muss sich fragen, was es bedeutet, mit Alten, Kindern und Wohnungslosen
solidarisch zu sein. Da würden wir uns mehr Solidarität wünschen, aber von
allen. Die Entsolidarisierung schreitet voran.
SZ: Warum kuschen die Wohlfahrtsverbände so vor der
Politik?
Zerrle: Ich beobachte, dass
sozial engagierte Menschen ob der Kürzungen resignieren. Es wird ihnen ständig
unterstellt, dass alles zu teuer ist und gekürzt werden muss.
SZ: Sind Sie von Stoiber enttäuscht?
Zerrle: Die
Wohlfahrtsverbände hätten sich zumindest gewünscht, dass sie rechtzeitig von
den Kürzungen erfahren. Uns wird aber einfach gesagt: Das habt ihr hinzunehmen.
Das hat uns enttäuscht, weil es früher anders war.
SZ: Sind Senkungen der Standards für Sie akzeptabel,
sobald mit Ihnen darüber geredet wird?
Zerrle: Wir werden uns gegen
eine massive Absenkung der Standards wehren.
SZ: Ist das Zweibettzimmer für Arme im Pflegeheim mit
Ihnen zu machen?
Zerrle: Das ist
ausgeschlossen.
SZ: Das sieht die CSU aber anders.
Zerrle: Es kann doch nicht
sein, dass man mit einem wildfremden Menschen im Alter ein Zimmer teilen muss.
Das ist doch heute nicht mehr zu verantworten.
SZ: In der CSU heißt es: Einer, der kein Geld hat und
Sozialhilfe bezieht, der kommt auch nicht ins Einzelzimmer.
Zerrle: Es gibt Leute, die
haben Geld, obwohl sie nichts geleistet haben, andere haben ihre Vermögen
unschuldig verloren. Aber alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse. Hier
geht es auch um die Menschenwürde. Ich lade Erwin Huber und andere Politiker
gerne mal ein, dass sie sich einen Tag lang in einem Pflegeheim umschauen.
Danach können sie mir sagen, wo man sparen soll.
SZ: Gibt es in der CSU überhaupt noch
Sozialpolitiker, die herausstechen?
Zerrle: Außer Horst Seehofer
sehe ich nicht mehr allzu viele. Ich wünschte mir mehr engagierte
Sozialpolitiker.
SZ: Welche Perspektive hat die Sozialpolitik in
Bayern?
Zerrle: Es gibt immer mehr
Menschen, die in Armut leben. Wenn wir nichts dagegen tun, werden uns die
Plätze für die Pflegebedürftigen fehlen. Auch im Behindertenbereich zeigt sich,
dass die Fallzahlen steigen. Es gibt immer mehr Alleinerziehende, und in vielen
Familien müssen beide Eltern arbeiten. Die Defizite der Kinder können weder
Kindergärten noch Schulen ganz auffangen.
SZ: Kann der ausgeglichene Haushalt 2006 das
alleinige Ziel der Politik sein?
Zerrle: Ziel muss eine
Politik sein, die dem Wohl der Menschen dient. Natürlich kann es nicht sein,
dass die Schulden auf die nächste Generation abgewälzt werden. Nur frage ich
mich: Hat das vorher niemand gewusst? Wieso hat die Politik die Verschuldung
erst jetzt entdeckt? Ich sehe eine Gefahr für den sozialen Frieden in unserer
Gesellschaft. Den hat bislang überhaupt keiner geschätzt, weil es
selbstverständlich war, dass es ihn gibt. An vielen Stellen unserer
Gesellschaft – fürchte ich –
werden
die
Konfliktpotenziale größer.
Aus: Süddeutsche Zeitung 9./10. April
2005.
Interview: Sebastian Beck und und Dietrich Mittler