München. Zu mehr Verständnis und Unterstützung
für die Angehörigen von Gefangenen hat Bayerns Landes-Caritasdirektor Prälat
Karl-Heinz Zerrle aufgerufen. Bei einer Fachtagung zur Straffälligenhilfe in
München sagte Prälat Zerrle, die Angehörigen seien unfreiwillig und unschuldig
Mitgestrafte. Allerdings würden sie von niemand als solche wahrgenommen: „
Eine Inhaftierung führt stets zu einem
Ausnahmezustand für alle Beteiligten. Die Angehörigen geraten in eine
seelische, finanzielle, soziale Krise. Der Strafvollzug lässt die familiäre
Situation der Inhaftierten und die Probleme der Angehörigen in der Regel außer
Acht. Selbstkritisch müssen wir anmerken: Auch die Straffälligenhilfe
berücksichtigt die Probleme der Angehörigen nicht in ausreichendem Maße.“
Besonders Kinder geraten durch die Inhaftierung ihrer Väter völlig
unverschuldet in eine Situation, der sie schutzlos ausgeliefert sind. Der
zurückgebliebene Elternteil, in der Regel die Mutter, ist häufig selbst am
Zusammenbrechen. Nicht selten sind Schulprobleme, Verhaltensauffälligkeiten wie
Aggression, Kontaktschwierigkeiten, Ängste und Krankheiten die Folgen dieser
belastenden familiären Situation. Die Erinnerung an den Vater wird oft für
viele Jahre geprägt von der knappen Zeit bei den Besuchen in der
Gefängnisatmosphäre.
Zur Scham und Enttäuschung kommt in den meisten Familien die Existenznot
hinzu. Finanzielle Sorgen sind programmiert: das Einkommen des Vaters fällt
weg, zusätzliche Kosten entstehen, Schulden müssen abgezahlt werden. Prälat Zerrle:
„Dies gefährdet viele Familien in ihrer Existenz und führt sie in die Armut.“ Das
Verhältnis zu den Verwandten, den Bekannten, Nachbarn und Arbeitskollegen
verschlechtert sich in der Regel. „Die Betroffenen wissen: die Leute reden
„darüber“, aber nicht mit ihnen“, sagte Prälat Zerrle.
Die Frauen sind häufig die Rettungsanker im Geschehen. Sie stehen aber unter
großem psychischen Druck, sind plötzlich allein für die Familie verantwortlich,
sind einsam, enttäuscht und schämen sich. Neben dem Alltag müssen sie den
Kindern Trost spenden und Zuneigung geben.
Bei der Entlassung wird das
Gleichgewicht in den Familien, das oft mühsam aufgebaut worden ist, auf die
Probe gestellt. Nicht selten leiden dabei die Partnerschaften, nicht selten
führt dies zu Trennungen.
Das Engagement der Caritas und der Kirche in der Sorge für straffällig
gewordene Menschen und ihre Familien ist nach den Worten von Prälat Zerrle
nicht allein eine beliebige Form von Sozialarbeit, die man tun könne oder
nicht. Der Auftrag der Kirche gründe im Wort Jesu Christi selbst. „
Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir
gekommen“, sagt Jesus in seiner Gerichtsrede (Mt 25,37).
Im Hebräerbrief
(Hebr 13,3) heiße es programmatisch: „Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr
mitgefangen.“
Eine Inhaftierung bewirke
existenzielle Notlagen, denen aus christlicher Sicht mit neuen Chancen
abgeholfen werden müsse, sagte Prälat Zerrle: „Je stabiler das soziale Netz,
umso geringer das Risiko nach der Entlassung wieder rückfällig zu werden und
umso größer die Chance sich wieder zu integrieren. Im Mittelpunkt unserer
Bemühungen und Beratungen muss die Aussage stehen: Kinder und Angehörige sollen
nicht unter den Bestrafungen leiden müssen.“
Die Caritas appellierte
an die
politisch Verantwortlichen,
die Angehörigen als Unterstützung im
Resozialisierungsprozess einzubeziehen. D
ie
Justizvollzugsanstalten sollten
der Familienarbeit im Vollzug einen
höheren Stellenwert einzuräumen. Das betreffe zum Beispiel die Ausgestaltung
der Besucherräume. Unter Beaufsichtigung der Beamten seien bei den Kontakten
Gefühle nur schwer zu zeigen. Die Gefangenen müssten für die Problemlagen ihrer
Angehörigen, insbesondere der Kinder sensibilisiert werden. „Sie müssen sich
auch im Gefängnis für ihre Familie verantwortlich fühlen“, betonte Prälat
Zerrle. Der Freistaat müsse die Wohlfahrtsverbände beim Ausbau des Netzes von
Beratungsstellen, insbesondere für Angehörigenarbeit unterstützen.
Kontakt: Hilde Rainer-Münch, Referentin für Straffälligenhilfe beim
Landes-Caritasverband Bayern, Telefon: 0170/3581148.
Pressemitteilung
Die Familie wird mitbestraft
Erschienen am:
22.06.2006
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