- München, 7.April 2000
Häusliche Krankenpflege in Gefahr
Caritas-Appell an Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer
München. Eine neue Richtlinie des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, die am 15. April in Kraft treten soll, gefährdet die häusliche Krankenpflege. Darauf hat Landes-Caritasdirektor Monsignore Karl-Heinz Zerrle aufmerksam gemacht: "Die tägliche Insulinspritze, Blutzuckermessung, Medikamentengabe und Medikamentenkontrolle, Blutdruckkontrolle, Kompressionsverbände, Sauerstoffabgabe durch die professionelle Hilfe der Pflegedienste: All das steht auf dem Spiel." Nur wenn die Patienten körperlich oder geistig dazu nicht mehr in der Lage seien, werde die Krankenkasse in Zukunft für diese Leistungen der Pflegedienste zahlen. Aber hier seien die Grenzen fließend, hat die Caritas beobachtet: "Mancher Patient ist noch fit, aber etwas vergesslich geworden. Es kann zur Katastrophe führen, wenn er seine Medikamente nicht regelmäßig nimmt."
Viele Patienten sollen nach den neuen Richtlinien keine Leistungen nach dem Krankenversicherungsgesetz mehr erhalten oder die Leistungserbringung würde durch einen bürokratischen Aufwand so erschwert, dass sie vor allem von älteren Patienten wohl nicht mehr nachgefragt würden.
Beispiele: Ein blinder Patient, der dauerhaft auf Unterstützung bei der Medikamentengabe angewiesen ist, soll in Zukunft alle vier Wochen eine neue ärztliche Verordnung vorlegen, obwohl sich doch an seinem Unterstützungsbedarf offensichtlich nichts ändern wird. Ein reine Schikane, meint die Caritas. Oder: Einer nicht pflegebedürftigen alten Frau mit wechselndem Blutdruck wird die Krankenkasse in Zukunft die Blutdruckkontrolle durch einen Pflegedienst verweigern können. "Kann sie, können ihre Angehörigen die Situation wirklich so gut einschätzen, dass sie wissen, wann ein Schlaganfall droht?" fragt die Caritas.
Auch die Caritas sei dafür, dass die Kranken und ihre Angehörigen das selber leisten, was sie können. Nicht jeder könne sich aber, zum Beispiel, selber die Zuckerspritze geben. Auch manche Angehörige würden sich scheuen. Deshalb müsse man genau darauf achten, wo sie überfordert seinen und die Hilfe von außen bräuchten.
Eingespart würde durch die neuen Richtlinien gar nichts, im Gegenteil: Die Einweisungen in Krankenhäuser würden zunehmen und damit unser Gesundheitssystem verteuern.
Die Caritas appellierte an Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer, den den genannten Richtlinienentwurf bis zum 15. April 2000 zu beanstanden und dafür zu sorgen, "dass eine humane häusliche Pflege möglich bleibt". Zerrle: "Die Bundesgesundheitsministerin sollte darauf drängen, dass sich Ärzte, Krankenkassen und Pflegedienste an einem gemeinsamen Tisch über eine humane häusliche Krankenpflege verständigen können."
Langfassung
Die Caritas und ihre angeschlossenen Verbände sind der größte Anbieter von ambulanter Krankenpflege in Bayern. Die 4.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der 400 Häuslichen Pflegedienste pflegen jährlich rund 85.000 alte, kranke und behinderte Menschen.
Wir wissen also, wovon wir reden, wenn wir sagen: Die Gesundheit von alten und kranken Menschen ist durch neue Richtlinien über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege, die der "Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen" vorgelegt hat, in Gefahr. Dagegen protestieren wir in aller Schärfe.
Abwälzen von Leistungen auf die Pflegekassen
Blicken wir zurück. Schon bald nach der Einführung der Pflegeversicherung 1995 versuchten die meisten Krankenkassen, Leistungen der Krankenversicherung auf die Pflegekassen abzuwälzen. Davon betroffen sind vor allem Leistungen mit aktivierendem und vorbeugendem Charakter wie Geh-und Bewegungsübungen, Einreibungen oder Leistungen wie Anus-Praeterversorgung, Verabreichung von Sondennahrung. Wenn diese Leistungen nicht mehr von der Krankenkasse bezahlt werden, sondern an die Pflegekasse abgeschoben werden, verkleinern sie das monatliche Budget des Patienten, so dass es unter Umständen bis zur Monatsmitte aufgebraucht ist. Der Patient muss dann die Pflege an den restlichen Tagen selbst bezahlen oder auf sie verzichten. Ein unhaltbarer Zustand. Bislang weigern sich die Krankenkassen, von ihrer rechtswidrigen Praxis abzugehen.
Erst in den letzten Tagen hat das Bundessozialgericht festgestellt, dass Krankenkassen die Verordnungen von häuslicher Krankenpflege durch Ärzte nicht ablehnen oder verändern dürfen.
Die Caritas ermutigt ihre Patienten, gegen die Ausgrenzungen Widerspruch einzulegen.
Neue Gefahr für Gesundheit der Patienten
Der "Bundesauschuss der Ärzte und Krankenkassen" hat im Herbst 1999 dem Bundesgesundheitsministerium "Richtlinien zur Verordnung häuslicher Krankenpflege" nach § 92 SGB V (Krankenversicherungsgesetz. vorgelegt. Die Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer hat diesen Entwurf weniger aus inhaltlichen als aus formalen Gründen zurückgewiesen. Nahezu unverändert hat der "Bundesauschuss der Ärzte und Krankenkassen" die Richtlinien erneut dem Bundesgesundheitsministerium zur Genehmigung vorgelegt. Erhebt die Bundesgesundheitsministerin bis zum 14. April 2000 keinen Widerspruch, erhalten die Richtlinien Gesetzeskraft.
Das wäre aus Sicht der Caritas für die Gesundheit vieler Menschen, die auf häusliche Krankenpflege angewiesen sind, äußerst fatal. Die angemessene Versorgung der Patienten durch eine bedarfsgerechte, professionell erbrachte häusliche Krankenpflege ist massiv gefährdet.
Worum geht es?
Vereinfacht ausgedrückt, führen die vorgeschlagenen Richtlinien zu einem "Mehr an Bürokratie" und zugleich zu einem "weniger an Leistung für die Patienten". Viele Patienten sollen nach den neuen Richtlinien in Zukunft keine Leistungen nach dem Krankenversicherungsgesetz mehr erhalten oder die Leistungserbringung wird durch einen unsäglichen bürokratischen Aufwand so erschwert, dass vor allem ältere Patienten auf die Leistungen der häuslichen Krankenpflege verzichten würden.
Die Caritas kritisiert vor allem folgende Punkte:
- Heute werden zum Beispiel Blutdruckmessen, Blutzuckermessen, Insulinspritzen, Medikamentenabgabe und Medikamentenkontrolle von den Krankenkassen bezahlt. In Zukunft soll Blutdruckmessen nur noch zur Einstellung sieben Tage bezahlt werden, Blutzuckermessen vier Wochen. Dann soll es der Patient selber tun, oder seine Angehörigen. Das mag zwar in manchen Fällen möglich sein, in vielen aber nicht. Ausnahmen sind nur noch möglich, wenn die Patienten nicht mehr genug sehen können, um den Blutdruckwert abzulesen. Oder wenn sie sich wegen feinmotorischer Probleme die Spritze nicht mehr setzen können. Oder wenn sie körperlich und geistig zu schwach dazu sind.
- Dekubitusvorsorge wie Druckentlastung oder richtiges Lagern wird von den Krankenkassen nicht bezahlt. Eine Dekubitusbehandlung soll erst möglich sein, wenn ein Hautdefekt und Blasenbildung schon vorhanden ist. Dann ist es zu spät. Krankenhauseinweisungen werden die Folge sein, und unerträgliche Schmerzen für die Patienten.
- Tag-und Nachtwachen bei Schwerstkranken und Sterbenden sollen nicht mehr bezahlt werden.
- Schwerstkranke Menschen wie Krebspatienten erhalten regelmäßige Infusionen. Über diesen venösen Zugang werden vor allem in der Sterbephase auch schmerzstillende Mittel verabreicht. Das können jetzt noch die Pflegdienste tun, in Zukunft nur noch die Angehörigen oder der Arzt. Welcher Arzt kommt alle zwei bis drei Stunden zu einem Patienten?
- Mittel wie Einreibungen und Wickel können unter Umständen teuere medikamentöse Therapien verzögern oder ersetzen. Sie sollen nicht mehr bezahlt werden.
- Bei vielen Dauerkranken ist eine Besserung nicht mehr zu erwarten. In Zukunft sollen sie alle vier Wochen vom Arzt ein neues Rezept holen. Das heißt: Mehr Bürokratie für den Arzt und den Pflegedienst, Belastung für den Betroffenen.
Folgen für die Patienten
- Werden zum Beispiel Blutdruck und Blutzucker nicht mehr regelmäßig kontrolliert, wird es verstärkt zu Krankenhauseinweisungen kommen. Der Aufenthalt im Krankenhaus ist bekanntlich erheblich teuerer als die ambulante Pflege.
- Nicht alle Patienten können die Medikamente so zuverlässig einnehmen, wie es ihre Krankheit erfordert. Fällt hier die Kontrolle von außen weg, ist die Gesundheit massiv gefährdet.
Die Dramatik der Folgen für die Gesundheit der Patienten zeigt eine Einschätzung einer Caritas-Sozialstation aus dem Landkreis München. Danach werden von 71 Patienten 40 von den Leistungskürzungen betroffen sein. Die tägliche Insulinspritze, Medikamentenabgabe, Blutzuckermessung, Blutdruckkontrolle, Kompressionsverbände, Sauerstoffabgabe, Tag- und Nachtwache durch die professionelle Hilfe der Pflegedienste: All das steht auf dem Spiel.
Ein anderes Beispiel: Die 22 Caritas-Sozialstationen in der Diözese Passau pflegen rund 1.700 Patienten. Sollten die Richtlinien in Kraft treten, werden die Krankenkassen ihre Leistungen bei 1.350 Patienten einschränken. 457 Patienten werden gar keine Leistungen mehr erhalten.
Selbstverantwortung und Verantwortung von Angehörigen
Auch die Caritas will die Selbstverantwortung jedes Einzelnen und die Verantwortung der Angehörigen für ihre alten und kranken Familienmitglieder stärken. Aber man kann sie nicht pauschal verordnen.
- Gerade bei älteren Menschen ist die Einsicht in ihre Krankheit und die Maßnahmen der Therapie nicht immer vorhanden. Manche sind zwar geistig fit, aber so vergesslich, dass sie zum Beispiel die regelmäßige Einnahme der Medikamente vergessen.
- Die Caritas hat viele alleinstehende Patienten, deren Angehörige entweder weiter weg sind oder die sich aus anderen Gründen nicht regelmäßig um sie kümmern können oder wollen. Die Verantwortung von dritter Seite ist nicht immer gegeben.
- Ehrenamtliche scheuen die große Verantwortung, das ist verständlich.
Die Fallbeispiele, die die Pflegedienstleiterin der Caritas-Sozialstation Bad Tölz-Wolfratshausen, Frau Sieglinde Winterer schildern wird, zeigen, dass Einzelfallentscheidungen unabdingbar sind.
Fallbeispiele
Ein Schlaganfall droht
Fall 1: Frau K., 78, lebt allein auf dem Land. Nach einem Herzinfarkt leidet sie an Herzinsuffizienz. Sie hat Zucker, neigt zu depressiven Verstimmungen, ihr Blutdruck schwankt, sie muss zur Blutverdünnung ein Medikament nehmen, das sehr sorgfältig zu dosieren und zuverlässig einzunehmen ist. Die Schwester der Caritas-Sozialstation misst den Blutdruck, achtet auf die regelmäßige Medikamenteneinnahme. Die Krankenkasse hat die Blutdruckmessung, obwohl ärztlich verordnet, von fünfmal pro Woche auf zweimal zusammengestrichen. Der Arzt ist durch wiederholte Konflikte mit der Krankenkasse so zermürbt, dass er keinen Widerspruch mehr einlegt. Sollte die Kasse nach den neuen Richtlinien die Blutdruckkontrolle ganz streichen, besteht die Gefahr, dass eine Bluthochdrucksituation übersehen wird. Ein Schlaganfall wäre die Folge.
Fall 2: Frau H., 83, lebt allein auf einem alten Bauernhof, ziemlich abseits. Nur am Wochenende können Angehörige vorbeischauen. Die Frau leidet an Bluthochdruck. Die Krankenkasse stuft die Patientin noch als geistig und motorisch fit ein. Aber sie sieht nicht ein, warum sie blutdrucksenkende Mittel nehmen soll. In Absprache mit dem Arzt kontrolliert die Schwester der Sozialstation den Blutdruck und die Medikamenteneinnahme. Nach den neuen Richtlinien wird das von der Krankenkasse nicht mehr bezahlt. Ohne Kontrolle droht das Übersehen einer kritischen Situation. Folgen könnten ein Sturz oder ein Schlaganfall sein.
Ein Zuckerkoma droht
Fall 3: Frau M., 86, alleinlebend, erhält täglich von der Schwester der Sozialstation eine Insulinspritze, Blutzucker und Blutdruck werden kontrolliert. Frau M. hat einen sehr hohen Blutdruck und Durchblutungsstörungen im Gehirn. Ohne die Kontrollen können Blutzucker und Blutdruck außer Kontrolle geraten, bis hin zum Zuckerkoma.
Knochenbrüche und Bettlägerigkeit drohen
Fall 4: Frau Z., 72, leidet an Polyarthrose. Nach einem Schlaganfall hat sie Bewegungsstörungen. Die Krankenschwester macht mit ihr Geh-und Bewegungsübungen. Diese Behandlung hat prophylaktischen Charakter und wird deshalb nach den neuen Richtlinien von der Kasse nicht mehr übernommen. Der Ehemann kann aus gesundheitlichen Gründen die Übungen mit seiner Frau nicht machen. Ohne die Übungen wird die Beweglichkeit von Frau Z. immer schlechter. Stürze mit Brüchen und letzlich Bettlägerigkeit sind zu erwarten.
Bürokratische Schikanen
Fall 5: Ein blinder Patient, der dauerhaft auf Unterstützung bei der Medikamentengabe angewiesen ist, soll nach den vorgeschlagenen Richtlinien alle vier Wochen eine neue ärztliche Verordnung vorlegen, obwohl sich doch an seinem Unterstützungsbedarf offensichtlich nichts ändern wird. Ein reine Schikane!
Forderungen der Caritas
Die Richtlinien über die Verordnung häuslicher Krankenpflege dürfen in der vorliegenden Form nicht rechtskräftig werden. Der Landes-Caritasverband Bayern fordert Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer auf, die vorliegenden Richtlinien zu beanstanden.
Im gesamten Gesundheitsbereich muss endlich der politisch gewollte und menschlich so wichtige Grundsatz: "ambulant vor stationär" ernstgenommen werden. Das tun die Richtlinien nicht. Sie sparen bei der ambulanten Pflege und müssen ein Vielfaches davon wieder für die dann notwendigen stationären Maßnahmen wieder ausgeben.
Die Bundesgesundheitsministerin sollte darauf drängen, dass sich Ärzte, Krankenkassen und Pflegedienste an einem gemeinsamen Tisch über eine humane häusliche Pflege verständigen können.