In einer Fachtagung der
Koordinationsstelle der bayerischen Suchthilfe
in Augsburg am 11.
Dezember 2002 beschäftigten sich Sucht-Experten mit der Situation von Kindern
suchtkranker Eltern.
Petra Eberle, die
Vorsitzende der Koordinierungsstelle der bayerischen
Suchthilfe, gab vor der Presse folgendes Statement ab.
Die Fachtagung "Kinder von suchtkranken Eltern“ wird in
Kooperation mit dem Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit, Ernährung und
Verbraucherschutz sowie dem Bayerischen Staatsministerium für Arbeit,
Sozialordnung, Familie und Frauen von der KBS veranstaltet. KBS ist die
Abkürzung für „Koordinationsstelle der Bayerischen Suchthilfe“. Die KBS ist ein
Fachausschuss der Landes-Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien
Wohlfahrtspflege in Bayern. In der KBS sind die in der Suchtkranken- und
Suchtgefährdetenhilfe tätigen Verbände der Freien Wohlfahrtspflege vertreten. Die
Ziele sind die Förderung und Entwicklung der Suchtkrankenhilfe in Bayern. Die
Geschäftsstelle der KBS hat eine Mitarbeiterin, Frau Margarete Lang, und ihren
Sitz in der Lessingstraße 3 in München.
Das Ziel der heutigen Fachtagung ist der Austausch der
Fachkräfte untereinander. Die KBS hat die Mitarbeiter/innen aus den Bereichen
der Jugendhilfe, Suchthilfe, Psychiatrie, Beratung eingeladen. Ein weiteres
Ziel ist es, konkrete Angebote bayernweit vorzustellen und motiviert durch die
Fachtagung zu konzipieren und vor Ort umzusetzen. Rund 120
Fachkräfte nehmen an der Tagung teil.
Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe in Bayern
In Bayern gibt es 319 Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe.
Im Einzelnen: 146 Beratungsstellen, 113 ambulante Entwöhnungsstellen, 5
Projekte Kontrolliertes Trinken, 13 Kontakte- bzw. Notschlafstellen, 9
Substitutionsambulanzen, 31 Entgiftungseinrichtungen, 36
Entwöhnungseinrichtungen, 10 Adaptionseinrichtungen, 19 Projekte Ambulant
betreutes Wohnen, 14 Arbeitsprojekte, 41 Projekte Stationär betreutes Wohnen.
Eine genaue Aufstellung finden sie im Anhang.
Hinzu kommen noch Hunderte von Selbsthilfegruppen, die mit
den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege eng zusammenarbeiten.
Kinder von
suchtkranken Eltern sind vergessene Kinder
Die KBS entschied sich, eine Fachtagung zu dem Thema „Kinder
von suchtkranken Eltern“ zu veranstalten, denn Kinder von Suchtmittel
Abhängigen, sind vergessene Kinder.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Suchtkrankenhilfe
speziell und in differenzierter Weise mit den Abhängigkeitskranken,
Missbräuchlern und den Angehörigen – sprich Co-Abhängigen – befasst und hier
ein breit gefächertes, ausgeklügeltes Hilfesystem geschaffen. Die Kinder der
Suchtmittelabhängigen hat man dabei vernachlässigt und kaum berücksichtigt.
Statistik
Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass es sich bei diesen
Kindern von suchtkranken Eltern um eine große Zielgruppe handelt:
Einige Zahlen, bezogen auf die Bundesrepublik:
·
1,6 Millionen Menschen in Deutschland sind abhängig vom
Alkohol
·
2,65 Millionen Menschen sind Missbräuchler, das heißt: Sie
haben sind alkoholriskant, aber noch nicht abhängig. Dabei sind die Grenzen
fließend.
·
42.000 Menschen werden jährlich durch Alkoholmissbrauch
getötet
·
rund 2 Millionen Kinder müssen mit der Alkoholabhängigkeit
eines der beiden Eltern leben.
·
Als erwachsene Kinder aus suchtbelasteten Familien sind
weitere 5 – 6 Millionen Personen potenziell durch eine erhöhte Anfälligkeit
gegenüber psychischen Störungen
gefährdet.
Gefährdung
von Kindern suchtkranker Eltern
Kinder von suchtkranken Eltern haben ein bis zu sechsfach
erhöhtes Risiko, eine Suchterkrankung zu entwickeln.
·
Rund 30 Prozent der Kinder suchtkranker Eltern werden später
selbst suchtkrank und
·
eine mindestens ebenso große Anzahl wählt (unbewusst), einen
suchtkranken Partner, und setzt somit das bekannte Muster an co-abhängigem
Verhalten fort.
Was steckt
hinter diesen Zahlen?
Bei der Beschreibung der Atmosphäre in einer Suchtfamilie
gilt es zu beachten, dass es sich hier um ein vielschichtiges Problem handelt.
Denn genauso wenig wie es
den
Abhängigkeitskranken,
den
Co-
Abhängigen oder
die
Sucht- bzw. die Alkoholikerfamilie gibt, genauso
wenig kann es
das
Kind von suchtkranken Eltern geben. Die
Entwicklungsverläufe können sehr unterschiedlich sein,
Kompensationsmöglichkeiten variieren und das Ausmaß der Störungen hängt auch
immer vom Grad der Störung und der Familie ab. Die Atmosphäre in der
Suchtfamilie ist durch eine ängstlich gespannte Erwartungshaltung, Unruhe und
Ungeborgenheit gekennzeichnet. Werden die Kinder z. B. einerseits vom
alkoholisierten Vater wegen Nichtigkeiten bestraft, kann er andererseits im
nüchternen Zustand der beste Vater sein. Das Kind versucht, jede Situation
genau zu beobachten und unter Missachtung seiner eigenen Gefühle, sein
Verhalten auf die Stimmungsschwankungen des Alkoholikers abzustimmen.
Die süchtige Beziehung hat
in allen Varianten etwas maßlos Forderndes, deshalb wachsen die Kinder in einem
besonderen Stress
auf. Wut, Scham,
Demütigungen und Hilflosigkeit prägen das Familienklima. Es herrscht ein
ständig gespannte Atmosphäre, die auch von
großen
Unsicherheiten
bestimmt ist. Die Familie bewegt sich oft jahrelang zwischen
neuer Hoffnung und wiederkehrender Enttäuschung. Kennzeichnend sind außerdem
der unsichere Familienzusammenhalt und die feindselige Stimmung zwischen den
Eltern.
Elterliche Streitigkeiten
und elterliche Spannungen bedingen häufig
Loyalitätskonflikte
im Kind. Eltern sind oft so sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass
sie den Kindern nicht die nötige Aufmerksamkeit zukommen lassen. Das Kind
empfindet sich als nicht erwünscht und überflüssig. Häufige Streitigkeiten
verursachen im Kind immer eine
Angst vor
Trennung
. Oft glauben sich die Kinder für die Misere verantwortlich und
glauben, sie können eine Besserung herbeiführen. Sie versuchen, das
Unkontrollierbare zu kontrollieren.
Rede nicht, traue nicht, fühle nicht
Da die Suchterkrankung immer noch eine stigmatisierte
Krankheit ist, ist allen in der Familie klar, dass sie ein
Geheimnis
bleiben muss. Für die Kinder
heißt das, dass in der Schule die Familiensituation nie beschrieben werden
kann, dass sie niemanden spontan mit nach Hause bringen können. Dies führt zu
verstärkter Isolation. Somit fehlt den Kindern eine Kompensationsmöglichkeit
für die Belastung zu Hause. Kinder, die mit suchtkranken Eltern aufwachsen,
lernen Regeln für ihr Leben:
„Rede
nicht, traue nicht, fühle nicht“
Suchtgefährdung
der Kinder suchtkranker Eltern
Die direkte Auswirkung elterlichen Alkohol- oder
Drogenmissbrauchs ist die
Alkoholembryopathie
.
Es werden jährlich 2.200 Kinder mit dem Vollbild einer Alkoholembryopatie
geboren. Ca. 10.000 Kinder werden mit Alkoholeffekten geboren, die erst im
Durchschnittsalter von sechs bis sieben Jahren erkannt werden. Die Dunkelziffer
über die verschiedenen Ebenen des Problems sind als hoch anzunehmen. Die
süchtige Mutter ist in Gefahr, aus ihren Kindern wiederum Süchtige zu machen,
nicht im Sinne organisch vererbter Abhängigkeit, sondern in dem sie sie gerade
jenen
Traumata aussetzt
, die bei ihr
selbst die Voraussetzung für die Drogenabhängigkeit schufen.
Rund 30 Prozent der Kinder suchtkranker Eltern wählen später
suchtkranke Partner
. Dabei scheinen
zwei Prozesse vor sich zu gehen. Erstens, es wird ein Partner ausgewählt, der
dem eigenen Vater/der eigenen Mutter gleicht und zweitens, es wird die
Partnerwahl des gleichgeschlechtlichen Elternteils imitiert, in dem unter
möglichen Partnern u. a. auf solche Signale besonders intensiv reagiert wird,
auf die schon die eigene Mutter bzw. der Vater besonders sensibel angesprochen
hat. Kinder von Alkoholikern entwickeln häufig ein ähnliches Muster wie ihre
Eltern oder eine andere Sucht. Etwa 30 Prozent der Kinder von Alkoholikern
werden wiederum alkoholkrank, dabei korreliert die Trinkhäufigkeit der Jungen
hoch mit der Väter, die Trinkhäufigkeit der Mädchen mit der Mütter. Viele
Kinder aus Alkoholikerfamilien sind davon überzeugt, dass ihnen so etwas, wie
sie es in ihrer Herkunftsfamilie erlebt haben, niemals passieren wird.
Weitergabe der Krankheit Alkoholismus
Die Krankheit
„Alkoholismus“ wird durch vielfältige genetische, psychische, soziale und
kulturelle Interaktionen weiter gegeben. Die Gewichtung der einzelnen Faktoren
ist nur sehr schwer zu analysieren. Genetische Erbfaktoren sind wohl darin zu
sehen, dass auch das Verhalten als Anlage weitergegeben werden kann. Die
Vererbung bzw. das Erlernen der Sucht als Verhaltensmuster, zum Teil über mehrere
Generationen hinweg- scheint wesentlich eindeutiger.
Wie kann
gehandelt werden?
Für die Kinder ist es wichtig, dass sie Lebensregeln
erlernen, die ihre Entwicklung ermöglichen und fordern. Angebote für diese
Kinder und deren Eltern sollten darauf abzielen, dass die persönlichen
Ressourcen z. B. Flexibilität, soziale Intelligenz, Temperament und
Sensibilität gefördert werden. Süchtige Eltern gefährden auf vielfältige Weise
das Aufwachsen der Kinder. Nur wenn die verschiedenen Institutionen wie der
Gesundheitsbereich, der Allgemeine Sozialdienst, die Suchthilfe und Justiz Hand
in Hand arbeiten, kann Hilfe für betroffene Eltern und Kinder funktionieren. Ein
niedrigschwelliges Angebot bieten die ambulanten Beratungsstellen, die neben
den Hausärzten die wichtigsten Ansprechpartner für die Abhängigen und
Angehörigen sind.
Angebote
für Kinder aus suchtbelasteten Familien in Bayern
In Bayern gibt es noch zu wenig spezielle Angebote für
Kinder suchtkranker Eltern. Sie müssen dringend ausgebaut werden. Dafür aber
fehlt dem Staat das Geld. Die vorhandenen Stellen sind mit der Therapie
betroffener Erwachsenen voll ausgelastet. Als vorbildliches Beispiel kann die
Gruppe für Kinder und Jugendliche aus suchtkranken Familien einer
Caritas-Suchtberatungsstelle in
Neuburg
bezeichnet werden, die speziell für die Zielgruppe „Kinder aus suchtbelasteten
Familien im Alter von 3 bis 18 Jahren“ ein Gruppenangebot vorlegt. Die Eltern
der Kinder sind in das Setting der Suchtberatungsstelle eingebunden, bei ihnen
liegt eine Suchtproblematik oder Drogenabhängigkeit vor. Nach vorheriger
Absprache steht die Kindergruppe auch Kindern offen, deren Eltern der
Beratungsstelle noch nicht bekannt sind.Eine eigene Kindergruppe mit ähnlicher
Konzeption unterhält auch seit 1991 die Caritas-Suchtberatungsstelle in
Bamberg
. Seit 1989 gibt es ein
Kinderhaus im Rehabilitationszentrum Schloss Bettenburg in
Hofheim
in Unterfranken. Dort erhalten Kinder eine heilpädagogisch
orientierte Tagesbetreuung, während ihre Eltern oder ein Elternteil in einer
zehnmonatigen stationären Therapie sind. Ein weitere seit sechs Jahren bewährte
Einrichtung ist "extra- Beratungs-und Kontaktzentrum für drogenabhängige
und gefährdete Frauen und Mädchen" in
München
.